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Wiener Kurier, 13. Oktober 1945

Wir sind quitt!

Anm. d. Red.: Der Autor schrieb diese Betrachtungen vor dem Bekanntwerden des von uns zum erstenmal veröffentlichten offenen Briefes, den Thomas Mann an Walter von Molo gerichtet hat: sie sind eine weitere Stimme zu dem Thema Emigration und ihre Folgen.

Wenn man besondere Emotionen vom Boden oder der Luft der Heimat erwartet hat, ist man enttäuscht. Man klettert über den Stacheldrahtzaun, aber Boden und Luft sind diesseits nicht anders als jenseits. Erst allmählich erwacht das Heimatgefühl aus dem Zusammenwirken von Landschaft, Sprache, Menschen und menschlichen Einrichtungen; und meistens sind’s Äußerlichkeiten, die den stärksten Eindruck machen, etwa das Wort „Trafik“ oder der Name „Julius Meinl“.

Als Emigrant hatte man große Angst vor der Heimkehr, die man doch wieder nicht erwarten konnte. Die große Frage war: Soll man zurückgehen oder nicht? Für mich war das nie eine Frage, seit ich im März 1938 Österreich verlassen hatte. Aber immer wieder mußten wir „Rückwanderer“ [uns] von den Andersdenkenden Vorwürfe machen lassen, die bis zum Boykott und zu Tätlichkeiten ausarteten und für uns den Ausdruck „Kollaborationisten“ prägten. Man darf diese Tatsache nicht ignorieren. Doch ist sie für Österreich nicht tragisch zu nehmen. Denn da ja niemand zur Heimkehr gezwungen wird, kommen nur jene hierher zurück, die ich auf Grund meiner Erfahrungen als die besten, die „österreichischesten“ Elemente bezeichnen kann. Viele mögen als Juden fortgegangen sein – wer kommt, kommt als Österreicher zurück!

Dies mindert aber nicht die Angst des Heimkehrenden. Über sieben Jahre liegen zwischen uns – und was für Erlebnisse! Wird man diesen Graben überbrücken können? Wird man die gleiche Sprache sprechen? Wird man einander nicht innerlich, unbewußt Vorwürfe machen? Die Hiergebliebenen uns, weil wir im sicheren Port saßen? Oder wir ihnen, weil wir ja doch bei keinem aus eigener Anschauung wissen, ob und wieweit er mitschuldig oder Nutznießer war? Ihr hattet trotz allem viel vor uns voraus, die Heimat, die Gemeinsamkeit mit eurem Kreis, uns besonders eines: die Möglichkeit der Entscheidung. Wir standen nie vor der Wahl, Pg. [Parteigenosse] zu werden, Stellen anzunehmen. Bei uns war die Anlehnung naturnotwendig, bei euch eine Leistung. Dafür hatten wir markenfreie Fischkonserven, reichlich Obst und Gemüse. Aber wie sollten wir das reichlich kaufen? Wir durften nicht arbeiten, und in gesunden Ländern spielt das Geld eine große Rolle. Dafür hatten wir keine Bomben, keine Straßenkämpfe, keinen Terror. Aber auch wir lebten seelisch unter einem ungeheuren Druck, quasi als Kriegsgefangene in Zivil; von Achsenmächten umgeben, war die Schweiz jahrelang in unmittelbarer Gefahr.

Wenn man sich dann vom Stacheldrahtzaun landeinwärts bewegt, merkt man bald, daß die Angst unberechtigt ist. Wenn man, wie ich, eine Fülle lieber Freunde findet und neue dazu, weiß man schnell und erfreut: Wir sprechen noch die gleiche Sprache. Wir haben einander nichts vorzuwerfen. Seine Toten kann keiner lebendig machen – bei euch sind viele tot, und bei uns – wir Überlebenden aber sind quitt. Wir denken gar nicht mehr allzu viel an gestern. Gestern war ich vielleicht noch privilegiert – trotz der vielen Härten unseres Lebens in der Schweiz, trotz Arbeitslagern, Fremdenfeindlichkeit und Beschränkungen aller Art –, denn bis zum Mai war meine Chance, das Ganze zu überleben, größer als eure. Heute aber seid ihr, die ihr’s überstanden habt, die Privilegierten. Ihr habt nämlich alle jene Erlebnisse und Erfahrungen gehabt, die das morgige Gesicht unseres Kontinents bestimmen werden, ohne die man einer von gestern bleibt. Um die sind wir betrogen worden. So lange sie sind, sind sie grauenhaft; aber man kommt um sie nicht herum. Einzig in dieser Hinsicht kommen wir uns in der Heimat wie Fremde vor.

Drum hatte ich auch solche Eile, bald hier zu sein. Ohne große Phrasen: ich wollte noch ein Stück vom Tiefpunkt der Kurve mitbekommen, nicht erst erscheinen, wenn alles schon aufgeräumt und sauber ist. Solange es Rassengesetze gab, konnte unser Platz nicht hier sein. Wer sich aber heute nicht hierher gehörig fühlt, der gibt den Rassengesetzen recht! Leute wie ich, die zurück nach Österreich wollen, leben in den neutralen und alliierten Ländern. Sie warten vergeblich, seit April und Mai schon, bald ein halbes Jahr. Daß sie noch nicht da sind, ist nicht ihre Schuld. Sie dürfen noch nicht einmal schreiben. Die letzten Nachrichten ihrer hiesigen Verwandten und Freunde waren von Februar und März. Es ist unsere Pflicht, alles zu tun, um sie bald hier zu haben. Nicht jeder kann über den Stacheldrahtzaun klettern. Es sind welche unter ihnen, die man hier gut brauchen kann, Gelehrte und Künstler, Ärzte und Ingenieure. Man soll keine Angst haben, daß sie anderen Plätze wegnehmen. Sie haben ein Anrecht darauf, dorthin zu kommen, von wo sie nur durch ein bestialisches Regime vertrieben wurden. Sie werden nicht fordernd großsprecherisch auftreten, aber auch nicht allzu demütig. Die Emigranten mußten viel opfern, als sie gingen. Sie sind bereit, wieder Opfer zu bringen, um zurückzukommen. Ich hatte Angst vor Österreich – und vielleicht hat Österreich auch ein wenig Angst vor den Emigranten. Aber wenn ich meine Erfahrungen hier überdenke, wenn ich mir vergegenwärtige, was österreichischer Geist einmal war und nun wieder werden soll, dann weiß ich, daß Österreich und die Emigranten keine Angst voreinander zu haben brauchten.

Hans Weigel

 

(Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Elfriede Ott. Jede Wiedergabe, auch in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung.)

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